
Die Schlüssel zum Tessin
Wie man Kutschen vermehrt und wie mit unsichtbaren Gepäckstücken umzugehen ist – darüber erzählt der erfahrene Concierge, dem für seine Gäste kein Weg zu weit ist.
Von Tessiner Osterias zu exotischen Inseln
Für den erfahrenen Concierge Claudio Caser startet jeder Morgen immer mit einem Kaffee im Hotel. Heute macht er das, was er immer macht: 20 Prozent arbeiten nach Plan, 80 Prozent nach Improvisation. Jeder Gast, der an ihn herantritt, begegnet ihm mit einem speziellen Wunsch oder Anliegen. Innert kürzester Zeit kann Claudios Tag eine Wendung nehmen und seine Improvisation gefragt sein, um die Wünsche der Gäste zu erfüllen. Von einer handgedrehten Zigarette, die sich Claudio kurzerhand vom Küchenpersonal aus dem Umzugsspint holt, über eine alte Milchkanne mit 500 Rosen bis hin zu einer geschmückten Kuh mitten im Garten des Hotels für eine japanische Reisegruppe – Claudio macht alles möglich.
Diskretion und Souveränität zeichnen einen geübten Concierge aus. Die wichtigste Eigenschaft laut Claudio jedoch: «Er hat Menschen gern!» Sein Ziel: Bei ausserordentlichen Wünschen und in herausfordernden Situationen die beste Lösung zu finden. Seine Waffe: Freundlichkeit. Es sei die eleganteste Art und Weise, zum Beispiel einen aufgebrachten Gast zu beruhigen, meint Claudio mit einem Schmunzeln. Vermutlich schiessen ihm gerade so einige Erinnerungen durch den Kopf.


Gastfreundschaft im Blut
Im italienischen Südtirol, in Bozen, aufgewachsen, hatte Claudio gleich zwei Sprachen intus: Deutsch und Italienisch. Im zarten Alter von 14 Jahren erlebte er sein erstes Vorstellungsgespräch bei einem Tiroler 4-Sterne-Hotel. Fortan putzte er dort Fenster und Silberbesteck, in schwarzer Hose und weisser Jacke mit Fliege. Der «Piccolo», wie ihn die anderen nannten, hatte Spass an der Arbeit und war fasziniert von den prominenten Gästen, die an- und abreisten. Der Room Service war seine liebste Tätigkeit, weil er dabei kurze Einblicke in die luxuriösen Suiten des Hotels erhaschte. Seine Begeisterung fiel auch dem Chef de Réception auf. So stieg Claudio auf und durfte selbst die wertigen Schlüssel des Hotels den Gästen aushändigen, damals noch nicht wissend, dass später zwei goldene Schlüssel permanent seine Jacke zieren würden.
Die Hotelfachschule war sein nächstes Ziel. Lausanne sollte es sein, und so reiste Claudio in die Westschweiz ohne ein Wort Französisch zu sprechen. Während er für die Zulassung über ein halbes Jahr fleissig die neue Sprache lernte, verlor die damalige italienische Währung Lira enorm an Wert, und so entstand eine finanzielle Hürde, die nicht zu meistern war. Dafür machten sich seine Sprachkenntnisse in Deutsch und Italienisch bezahlt, als er im Tessin für eine Arbeitsstelle vorsprechen konnte. Beim Arbeitgeber, dem er bis heute treu geblieben ist: das Hotel Giardino in Ascona.
Das Tessin ist seine Heimat geworden. Über 20 Jahre später wurde Claudio ungeplant auch Schweizer Bürger. Er musste beim befreundeten Bürgermeister von Brissago antraben, der erpicht darauf war, Claudio einzubürgern. So wurden ihm die wichtigsten Fragen über die Schweiz und den Bundesrat gestellt. Ein Kinderspiel für Claudio, der erst einige Tage zuvor Frau Bundesrätin Dreifuss im Hotel begrüsst hatte und von Bundesrat Ogi nach Kandersteg eingeladen worden war.


Von sichtbaren und unsichtbaren Gepäckstücken
Zunehmend grosse Beachtung fand der Beruf des Concierge nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals organisierten die Concierges ganz im Stile des Films «The Grand Budapest Hotel» die Weiterreise der Gäste in die nächste Metropole Europas. Der Beruf findet seinen Ursprung aber noch weit vor dieser Zeit, abgeleitet vom «Comte des Cierges», dem Graf in einem Schloss, der für die Beleuchtung zuständig war. Eine zeitintensive und verantwortungsvolle Aufgabe, wenn man bedenkt, wie gross so ein Gebäude und wie riskant die Beleuchtung mit Kerzen war. Der grosse Schlüsselbund öffnete ihm jede Tür. Eng mit den Bewohnern des Hauses im Kontakt, wusste er über jedes Techtelmechtel Bescheid.
Das ist bis heute so geblieben: Claudio kennt so einige private Details seiner Gäste. Bei der Anreise seien da immer auch «unsichtbare Gepäckstücke» mit dabei, wie Claudio delikate Geschichten oder Lasten aus dem Alltag nennt. Mit diesen sei sehr diskret umzugehen. «Kümmert man sich um die Anliegen, darf man sich nicht zu stark involvieren lassen.» Das hat Claudio mit der Zeit gelernt. Letztendlich sei man kein Psychologe, meint Claudio lachend. Er könne keine Ehe vor dem Aus oder eine Firma vor dem Konkurs retten. Natürlich sei es aufregend, von einem Gast beispielsweise eingeladen zu werden, dessen Villa in Saint-Tropez zu nutzen oder mit seinem teuren Schlitten herumzukurven. Aber es sei wichtig, seinen Platz zu kennen – hinter dem Desk, immer da, wenn der Gast ihn aufsucht, immer engagiert, seinen Aufenthalt im Hotel zu verschönern.


Je schöner der Ort, desto extravaganter der Wunsch
Claudio kennt das Tessin in- und auswendig. Als wir seine Lieblingsplätze aufsuchen, hat er zu jedem auch eine Geschichte zu erzählen. In der Osteria Borei reisen die Gäste etwa sogar per Helikopter an, um über Mittag das Risotto zu kosten, das als Geheimrezept über drei Generationen weitervererbt wurde. Das Gästebuch der Osteria hält diese ausserordentlichen Besuche fest. So begleitete Claudio einst auch eine Erbin eines Schmuckunternehmens, die in ihrem Ford Thunderbird die engen Kurven in die Osteria hinauffahren wollte, wobei das Auto beinahe an einem überhitzten Motor kaputtlief. Nach zu viel Wein und Grappa musste Claudio schliesslich die Heimfahrt neu organisieren und das schöne Auto durfte für eine Nacht die bezaubernde Aussicht über den Lago Maggiore geniessen.
An eine seiner Stammgästinnen erinnert sich Claudio sehr gerne. Ganz Ascona und Locarno kennt die Dame, welche sich immer wieder für längere Besuche im Hotel aufhält. Mit der Zeit gingen Claudio beinahe die Ideen aus, was er für sie noch organisieren könnte. Und so schlug er ihr eines Tages kurzerhand einen Beichtbesuch beim Pater in der Madonna del Sasso vor, einer Pilgerstätte mit Kloster und wunderschöner Sicht über ganz Locarno. Als die Dame am späteren Nachmittag immer noch nicht zurückgekehrt war, sorgte sich Claudio und rief beim Pater an. Entwarnung: Sie hatte nach dem Besuch der Privatbibliothek, die auch wir an diesem Tag besuchendurften, den Weinkeller entdeckt und mit dem Pater einige Gläschen über den Durst getrunken. Dass Claudios Ausflugstipps eine gewisse Anziehungskraft haben, beweist diese Geschichte eindrücklich. Eine weitere gefällig? Gerne!


Die imposante Hochzeit von Ronco ist das beste Beispiel dafür, dass das Wort «unmöglich» in Claudios Wortschatz nicht existiert. Vorerst eine Hochzeit, deren Aufwand sich ganz im Rahmen hielt, nahm es eine andere Wendung. Mit einem Anruf vom Vater der Braut erreichte Claudio ein neuer Wunsch: Anstatt mit den Autos zur Kirche Ronco zu fahren, hätte er gerne Kutschen für die gesamte Hochzeitsgesellschaft. Claudio, ganz in seiner Figur als Concierge, blieb höflich und bestätigte dem Herrn, dass sich dies machen lassen könnte, sich selbst vollends bewusst, dass es im Tessin nur eine einzige Kutsche gibt. Wie also sollte er diese vermehrfachen? Doch eine Kutsche war besser als keine und so rief er den Kutscher an. Das eine führte zum nächsten. Schliesslich standen am Hochzeitsfest 25 geschmückte Kutschen auf der ehemaligen Flugstrecke in Ascona bereit. Die Kutschen und Pferde waren von der ganzen Schweiz via Zirkuswagen ins Tessin transportiert worden. Von der Polizei eskortiert, kurvten die Kutschen nach Ronco, wo das gesamte Dorf in Aufruhr war und sich schon mehrere Fernsehsender eingefunden hatten.
Auch, aber nicht nur im Rahmen dieser Hochzeit: Claudio erinnert sich immer gerne an die vielen Hotelgäste, die durch die Hoteltüren des Giardinos schon ein- und ausgegangen sind. Und viele davon haben etwas dagelassen – weitere erzählenswerte Geschichten.

Ein eigener Baum auf den Brissago-Inseln
Früher mit einem pinken Holzboot, der Aphrodite, den See unsicher gemacht, legt Claudio heute mit einem modernen schwarzen Motorboot vom Hafen ab und fährt auf den tiefblauen Lago Maggiore hinaus. Mitten im See befinden sich zwei kleine Inseln, die je nach Perspektive auch als eine einzige Insel erscheinen. Auf der Fahrt erzählen mir Claudio und unser Skipper Claude, ein erprobter Seefahrer vom Lago Maggiore, von den alten Zeiten. Wie sich Ascona und Locarno entwickelt haben, wo wer gewohnt hat und wie sich die beiden Inseln über die letzten 100 Jahre verändert haben. Früher chauffierte Claudio in dem alten «Tanker» seine Gäste zu den Inseln und verwöhnte sie mit leckeren Menus auf dem Schiff. Wenn das Kursschiff vorbeifuhr, musste man geschickt den Wellen ausweichen, sonst landete das Geschirr auf dem Boden. Es waren abenteuerliche Fahrten, von welchen die Hotelgäste noch heute in der Hotellobby erzählen. Wenn der Motor ausstieg, und das kam immer wieder mal vor, dann war der Grappa besonders lecker und überbrückte die Zeit, bis jemand zu Hilfe kam.


Für Claudio sind die Brissago-Inseln etwas ganz Besonderes. Von seinen Lieblings-Orten im Tessin und seinem kleinen Häuschen oberhalb von Brissago, ganz nah an der italienischen Grenze, sind die beiden Inseln gut zu sehen. Es gibt so viele Geschichten, die ihn mit diesen zwei grünen Flecken verbinden, welche im Zweiten Weltkrieg sogar mal als Standort für eine Schwarzpulverfabrik gedient hatten. Eine dieser Geschichten betrifft eine unvergessliche Hochzeit: Als Concierge hat Claudio schon eine Vielzahl an Hochzeiten organisiert – eine davon auf dem alten Raddampfer «Piemonte» mit Stopp vor der Insel. Da das Brautpaar unter den vielen Vorschlägen an Zeremonie-Führern keinen passenden fand, schlug die Mutter des Bräutigams kurzerhand vor, dass Claudio doch am besten dafür geeignet sei. Und so kam es, dass Claudio auf dem schön beleuchteten Dampfer vor gesamter Hochzeitsgesellschaft diese zwei jungen Menschen traute. In seiner Rede sprach er von der Baronin Antoinette Saint-Léger, welche die Inseln lange Zeit belebt hatte, und nahm die Gäste mit auf die Reise der beiden Inseln, welche mit ihrem gemeinsamen Dasein viel zu erzählen haben.


Die Brissago-Inseln sind bekannt für ihre exotischen Gärten. Pflanzen aus der ganzen Welt sind dort zu finden. Eine von ihnen dank Claudio. Für ein Kaminfeuer hatte er sich einst einen Sack Holz gekauft. Als er diesen entleerte, fielen aus dem Jutesack auch zwei Kaffeebohnen. Fein säuberlich pflanzte Claudio diese und hegte und pflegte sie. Und siehe da – es wuchs ein grosser Kaffeebaum. Irgendwann zu gross und zu geschmacksintensiv für seine Wohnung, bot Claudio einem Gärtner der Brissago-Inseln den Baum an und so wurde er auf die Inseln verschifft. Während wir mit dem Schiff auf der Insel anlegen, sind wir gespannt, ob der «Café Arabica» zu finden ist. Und tatsächlich steht er da, und zaubert Claudio ein breites Grinsen ins Gesicht.


Das Netzwerk mit Klasse
«Concierges sind die Erfinder von Networking», meint Claudio lachend. Nur so sei der Job überhaupt zu meistern und das Unmögliche möglich zu machen. Claudio hat Kontakte zu diversen Juweliergeschäften, Boutiquen und Blumenläden aus der Region, die er auch zu unmöglichen Zeiten anrufen darf. Es könnte ja sein, dass ein verzweifelter Gast den 30. Hochzeitstag mit seiner Frau beinahe vergessen hätte. So muss über Nacht das perfekte Geschenk organisiert werden. Ob Geschenke, vergessene Gegenstände oder Arzneimittel: Seine Kontakte machen alles möglich. Entsprechend breit sind sie aufgestellt: vom Pater über den Gemüsehändler bis hin zur Speditionsgesellschaft. Claudios Einstellung, wenn ihm jemand bei einem Gästeanliegen hilft: «Ich gehe immer davon aus, dass ich das irgendwann mal zurückgeben kann – in welcher Form auch immer.» Ehrlichkeit und Verlässlichkeit seien dabei immer wichtig – so bleibe der gute Ruf bestehen, welchen Claudio im Tessin geniesst.
Claudios Engagement und Freude am Beruf hat schon viele Gäste begeistert. So kam es, dass ihm eine der Stammgästinnen, eine ältere Dame aus Istanbul, nahelegte, sich als Concierge-Mitglied bei der Vereinigung Clefs d’Or zu bewerben. Ihr war aufgefallen, dass Claudio nicht die beiden goldenen übers Kreuz gelegten Schlüssel am Revers trug, wie dies alle Mitglieder des wichtigsten Netzes der Concierges von Luxushotels tun. Die Dame nahm die Sache gleich selbst in die Hand und informierte Herrn Ostertag vom «Baur au Lac» in Zürich über den jungen Anwärter. Claudio musste in Zürich antraben und wurde von den Mitgliedern von Kopf bis Fuss gemustert. Heute enge Freunde und Freundinnen, war der Anfang gar nicht so leicht: Einige Gäste trafen im Giardino mit dem Auftrag ein, dem jungen Anwärter auf den Zahn zu fühlen. Claudio bewies sich und wurde als eines von 140 Mitgliedern in der Schweiz in die Vereinigung aufgenommen. Wenig später repräsentierte er als vierter Präsident die Schweiz im internationalen Verbund mit 4’000 Mitgliedern.



Les Clefs d’Or ist eine Vereinigung, die stark von ihrem Netzwerk untereinander profitiert und dadurch ein so familiäres Verhältnis pflegt. Man hilft sich immer gegenseitig aus, dann zum Beispiel, wenn man eine Handtasche von Gucci sucht, die es nirgends mehr gibt, ein Concierge aus New York aber weiss, wo er sie auftreiben kann und sie schliesslich in die Schweiz schickt. Die Elite des Servicepersonals kann sich auch immer auf ihre Partner verlassen. In Sachen Mobilität beispielsweise steht Hertz jederzeit zur Verfügung und hilft regelmässig beim Erfüllen von exklusiven Gästewünschen. Ausser Pferdekutschen bietet Hertz schliesslich alles, was die Gäste begehren.
Dank der Vereinigung Clefs d’Or hat Claudio die Welt aus exklusiven Perspektiven gesehen. Und so gibt es eine Liste an Erlebnissen, in der jedes das andere toppt: etwa der Helikopter-Flug über die Niagara Fälle, der Gang über den roten Teppich des Parlaments in Budapest, die Fahrt in der privilegierten Liftstation im Burj Khalifa in Dubai, der Spaziergang durchs Weisse Haus oder die Audienz beim Papst.

Gibt dir das Leben Zitronen, dann mach Limonade daraus
Wenn Claudio nicht in seinem kleinen Häuschen seine eigene Polenta im Kupfertopf rührt oder seinen Salbei hegt, dann ist er unterwegs in der weiten Welt. Reisen sei sein Doping und Lebenselixier für seinen Job. Diesen könne er nur dann gut machen, wenn er selbst auf Entdeckungstour gehe und sein Netzwerk weiterspinne. Nur so könne er seine Gäste zu Ausflügen beraten oder ihnen Zugang zu exklusiven Orten verschaffen.
Auf seinen Reisen geniesst Claudio gerne das Angebot von Hertz und fährt dabei auch mal die eine oder andere Extrarunde mit dem Mietauto. Umwege seien das Schönste, was es gebe, meint Claudio mit einem Funkeln in den Augen und erzählt von seinen Abenteuern mit dem Auto oder zu Fuss. In Städten stecke er am liebsten sein Handy weg und laufe einfach los, orientiere sich an der Umgebung und entdecke dadurch die schönsten Ecken. Am liebsten aber verläuft Claudio sich in Venedig. «In unserer heutigen Zeit haben wir etwas Entscheidendes verlernt», meint Claudio: «Andere Menschen zu fragen! Wir orientieren uns an verschiedensten Apps und Ratgebern und sind dabei so konzentriert auf unser Handy, dass wir vergessen, dass wir jemanden ansprechen könnten, um ihn zu fragen.»


Natürlich hat Claudio auch dazu eine Anekdote: Mit einem befreundeten Concierge war er mit Rollern südlich von Neapel unterwegs, als sie sich entschieden, einen Umweg zu fahren, um eine Anhöhe zu erreichen. Dabei trafen sie auf einen Anwohner, der sie kurzerhand auf einen Drink einlud. So genossen die beiden Concierges zwei göttliche Granita al Limone aus frisch gepressten Limone di Sorrento. Beim kühlen Drink unterhielten sie sich miteinander und der ältere Herr entpuppte sich als ein Barmann, der in den grössten Palaces von Europa Drinks gemischt hatte. Dass sich Umwege lohnen und das Unterwegssein der Sinn und Zweck der Sache sei, das hat uns Claudio mit dieser und seinen anderen Geschichten einmal mehr klargemacht.